Inklusive Medienarbeit: Katrin Jäger
Wie findet in Hamburg Medienarbeit mit Menschen mit Handicap statt? In einer Serie stellt das Mediennetz Hamburg einige dieser Angebote vor. Im ersten Teil der Serie geht es um das erste Radiozertifikat für Sehende, Sehbehinderte und Blinde, das gemeinsam vom Blinden- und Sehbehindertenverein Hamburg und der TIDE.akademie angeboten wird.
Mediennetz Hamburg: Stell’ dich doch bitte kurz vor: Wer bist du, was machst du bzw. was macht deine Einrichtung?
Ich bin Katrin Jäger und ich leite die TIDE.akademie. TIDE ist Hamburgs Communitysender und Ausbildungskanal im Hörfunk-,TV-, und Crossmedia-Bereich. TIDEs gesetzlicher Auftrag als Sender umfasst unter anderem Integration und Inklusion und die niedrigschwellige Ausbildung im Medienbereich. Bei TIDE können Menschen eigene TV- oder Radiosendungen konzipieren, produzieren und ausstrahlen. Die Kursangebote der TIDE.akademie in den Bereichen journalistische Praxis, TV, Radio und Web befähigen dazu.
Wie engagiert sich deine Einrichtung für Menschen mit Handicap und welche Angebote gibt es in diesem Bereich konkret?
Seit April 2017 bietet TIDE als erste Einrichtung bundesweit ein inklusives Radiozertifikat für Sehende, Sehbehinderte und Blinde an. Das praxisorientierte Zertifikat umfasst insgesamt 40 Unterrichtsstunden und vermittelt Fertigkeiten in folgenden Bereichen: Journalistische Grundlagen, Radioproduktion Basic und Advanced, Interview, Bericht mit Einblendung (BmE) und Radioreportage, Texten fürs Hören, Sprechen vor dem Mikrofon, Moderieren im Radio.
Hierfür hat sich der Hamburger Ausbildungs- und Communitysender mit dem Blinden- und Sehbehindertenverein Hamburg e.V. (BSVH) zusammengetan. Gemeinsam wurden die bestehenden Kursinhalte angepasst sowie die erforderlichen Hilfsmittel angeschafft, wie etwa Braillezeilen im Radiostudio. Zudem wurden Vorlese- und Vergrößerungssoftware an den Rechnern implementiert und sprachgesteuerte Aufnahmegeräte angeschafft. Das Projekt konnte dank einer Förderung der Griebel-Stiftung realisiert werden, die die notwendigen Mittel zur Verfügung gestellt hat.
Sehende, Sehbehinderte und Blinde lernen in diesen Kursen gemeinsam. Ausnahmen sind die beiden Kurse Radioproduktion Basic und Advanced. Diese belegen die Teilnehmenden mit und ohne Seheinschränkungen getrennt, da sie mit unterschiedlichen Audioschnitt-Programmen arbeiten. Die blinden und sehbehinderten Teilnehmenden schieben die Regler im barrierefreien Radiostudio des Blinden- und Sehbehindertenvereins Hamburg, das vollständig für die Bedürfnisse dieser Zielgruppe eingerichtet ist. Der dortige Dozent ist der blinde Radioprofi Robbie Sandberg.
Die Pilotphase mit den zehn geförderten Kursen startete im April 2017 und dauerte etwa zwei Monate. Die einzelnen Workshop-Module bietet die TIDE.akademie fortlaufend abends an Werktagen an. Wer alle zehn Kurse absolviert hat, erhält das Radiozertifikat. Es ist blinden und sehbehinderten Radiointeressierten aber auch möglich, einzelne Kurse zu belegen. Inzwischen sind zusätzlich die Kurse Freier Journalismus und Journalistisches Schreiben barrierefrei, so dass auch hier sehende und blinde Teilnehmende gemeinsam lernen können.
Was ist das Ziel des Projektes?
Das Projekt ermöglicht blinden und sehbehinderten Menschen, eigene Sendungen zu produzieren und diese im Radio und im Web zu verbreiten. In den inklusiven Kursen kommen die sehenden, sehbehinderten und blinden Teilnehmenden über Übungen, Diskussionen und Feedback-Runden miteinander ins Gespräch und in den Austausch. Dies baut Hemmschwellen ab und fördert das Verständnis füreinander.
Die Sehenden bekommen Einblicke in die Welt der Blinden und Sehbehinderten. Denn die blinden und sehbehinderten Teilnehmenden wählen Themen für die Übungsinterviews, die Sehende schlicht nicht wählen würden: Wie ist es zum Beispiel ist, als blinder Fan ein Fußballspiel im St. Pauli Stadion zu verfolgen oder Goalball (Ballsportart für Blinde) zu spielen.
Auch die Dozentinnen und Dozenten erweitern ihren Erfahrungshorizont. In meinem Interviewkurs interviewte mich beispielsweise ein blinder Teilnehmer zu einem Urlaubserlebnis. Für mich völlig überraschend bat er mich, die Augen zu schließen und ausschließlich von den akustischen, haptischen und olfaktorischen Wahrnehmungen zu erzählen. Auf diese Idee war bislang keine sehende Teilnehmerin oder Teilnehmer gekommen.
Wie wichtig ist euer Angebot für die Menschen mit Handicap? Welche gesellschaftliche Bedeutung hat das Projekt?
Als Hamburgs Ausbildungs- und Communitysender versteht sich TIDE als Ort, der alle Interessierten ansprechen will. Uns ist es wichtig, unsere Angebote verstärkt für Menschen mit Behinderungen zugänglich zu machen. Mit unserem inklusiven Kursprogramm befähigen wir blinde und sehbehinderte Menschen, selbst Radio zu machen, im besten Fall Radioproduzentinnen und Radioproduzenten bei TIDE zu werden und so aktiv und kreativ das Bürgerprogramm mit zu gestalten.
Mit dem Radioproduzenten Thomas Ohrens (Sendung „Nachtflug“) hat TIDE im Moment einen blinden Bürgerproduzenten. Wir hoffen, dass die Zahl über unser inklusives Kursprogramm und die Zusammenarbeit mit dem BSVH steigt. Das TIDE Gebäude ist für Rollstuhlfahrer_innen zugänglich. Auch die beiden Radiostudios sind barrierefrei. Leider nehmen erst sehr wenige Rollstuhlfahende an unseren Kursen teil.
Auch unter den Bürgerproduzent_innen sind momentan keine Rollstuhlfahrer_innen. Ein Schüler ohne Arme hat bei TIDE ein Praktikum als Radioredakteur gemacht. Er konnte aufgrund der technischen Möglichkeiten problemlos allein im Radiostudio seine Sendungen produzieren. Die Zusammenarbeit mit ihm war für die anderen Redaktionsmitglieder und für mich als damalige Redaktionsleiterin eine großartige Erfahrung. Zu Außenterminen hat der körperbehinderte Praktikant einen Partner mitgenommen, der das Mikrofon bei Interviewterminen hielt. Ich bin mir sicher, dass dabei persönliche Gespräche stattgefunden haben und Hemmschwellen abgebaut wurden. Derlei Erfahrungen bauen Vorurteile ab, stärken die Empathie und erweitern den eigenen Horizont. Sie fördern ein akzeptierendes, wertschätzendes Miteinander.
Was nehmen die medieninteressierten Teilnehmer*innen mit?
Die Teilnehmer unseres Pilotprojektes „Inklusives Radiozertifikat“ waren über die 10 Kurse hinweg engagiert und begeistert bei der Sache – sowohl die Blinden und Sehbehinderten als auch die Sehenden. Ein Teilnehmer spielt mit dem Gedanken, als Radioproduzent bei TIDE einzusteigen. Er hat sich als Interviewpartner für die Jugendlichen in unserem Sommerferienangebot „Fit fürs Radio“ zur Verfügung gestellt. Die Jugendlichen haben ihn auf seinem Weg durch die Stadt begleitet und eine Reportage aus dem Rohmaterial produziert. Der körperbehinderte Praktikant hat seinen Berufswunsch, Journalist zu werden, über die positiven Erfahrungen im Praktikum in der Radio Redaktion gefestigt. Ich habe beobachtet, dass, sobald ein Mitpraktikant oder ein_e Teilnehmer_in mit Behinderung im Redaktionsteam oder im Kurs ist, sich das Gruppenklima positiv verändert: wertschätzendes Miteinander, Hilfsbereitschaft, Interesse an den anderen.
Was sind die Besonderheiten der medienpädagogischen Arbeit mit dieser Zielgruppe?
Bevor der erste Durchlauf des inklusiven Radiozertifikats für Blinde und Sehbehinderte startete, hatten die TIDE.akademie und der BSVH eine lange Phase gegenseitigen Kennenlernens und Planens. Nach und nach wurde klar, wo die Reise hingeht, welche Bedürfnisse die Teilnehmenden hatten, welche Hilfsmittel angeschafft werden mussten, wie Kursinhalte angepasst werden mussten, um Barrierefreiheit zu garantieren. Wir hatten das große Glück, dass der blinde Radiomacher Robbie Sandberg zusammen mit den Dozent_innen ihre Kursmaterialien durchgegangen ist und Schritt für Schritt angepasst hat. Ohne ihn als Insider wäre das nicht möglich gewesen.
Robbie ist nun fest im Dozent_innenpool der TIDE.akademie. Er gibt die Kurse Radioproduktion Basic und Advanced für Blinde und Sehbehinderte. Er ist der erste blinde Dozent in der TIDE.akademie, der Austausch mit ihm ist eine große Bereicherung. Ich war im Radiostudio des BSVH und er hat mir erklärt, wie er mit dem Braille Mischpult die Lautstärke pegelt, es war sehr spannend. Wir haben die Kurse ständig evaluiert und angepasst und tun es weiterhin.
Nach dem ersten Durchlauf wurde uns klar, wie unterschiedlich die Bedarfe bei Sehbehinderten sind. Zudem zeigte sich, dass man die Bedarfe vorher individuell abfragen muss und es am besten ist, wenn die Teilnehmenden ihre eigenen Laptops mitbringen, statt unsere Akademie Laptops zu benutzen. Sie kennen sich auf ihrem Computer aus und können sofort inhaltlich einsteigen. Hilfreich war, dass wir die Griebel-Stiftung als Anschubfinanzierer mit im Boot hatten, so dass Geräte, Programme, Kursanpassungen und der Pilotdurchgang finanziell abgesichert waren. Insgesamt kann ich sagen, dass das inklusive Radiozertifikat ist tolle Sache für alle Beteiligten ist. Der Aufwand, die Kurse anzupassen, war groß. Aber er hat sich mehr als gelohnt. Das nächste Projekt steckt schon in der Pipeline: Aufbauend auf dem inklusiven Radiozertifikat planen wir nun gemeinsam mit dem BSVH einen Bildungsurlaub „Radio machen“ für Blinde und Sehbehinderte.
Vielen Dank für das Interview!